Ein Meer aus Tränen

 
  31.01.05 (NRZ)

Ein Meer aus Tränen

ZEITGESCHICHTE / Vor 60 Jahren starben Tausende auf der "Gustloff". Auch zwei Geschwister von Elisabeth Anlahr

MOERS. Sie waren ganz alleine. Neun Kinder zwischen ein und 15 Jahren. Günter und Erika kamen auf der "Gustloff" ums Leben. Da waren die beiden ein und zwei Jahre alt. Die anderen sieben haben durch einen Zufall überlebt.

"Das ist ein Wunder", flüstert Elisabeth Anlahr, geborene Quast, die zweitälteste von zehn Geschwistern. 1942, als sich die Bombenangriffe über Moers-Scherpenberg häuften, war die Mutter mit den Kindern an die Weichsel geflohen. Vater Quast entkam dem Sondergericht als bekennender Nazigegner und hatte sich freiwillig als Brunnenbauer in den Osten gemeldet.

Bei -20° allein mit einem schreienden Säugling

Dort wurde 1943 Erika geboren. Und Ende 1944 die jüngste, Inge. Mutter Quast kam kurz darauf ins Krankenhaus, schwerst krank. Da wurden die beiden Kleinen mit einem Kindertransport an die Ostsee geschickt.

Die anderen sollten nachkommen, sobald die Fahrausweise da waren. Vier Tage später musste der Vater doch noch an die Front. Da waren die Kinder ganz alleine. Mit einem Säugling, der Tag und Nacht vor Hunger schrie. Ein Apotheker organisierte eine Mitfahrt für die Ältesten, die den Säugling der Mutter brachten. Damit die jüngeren bei -20° nicht erfroren, kehrten Helga (15) und Elisabeth (14) in der Nacht darauf zurück. Dort waren inzwischen auch die Fahrkarten eingetroffen.

Am nächsten Morgen wollten die Ältesten Proviant für die lange Reise besorgen. Und standen plötzlich vor einer deutschen Patrouille, die sich wunderte, was die Kinder dort suchten. Da erfuhren Helga und Elisabeth Quast, dass in der Nacht das ganze Dorf geräumt worden war, weil die Russen kämen.

Elisabeth Anlahr weint. "Uns hat niemand Bescheid gesagt, weil sieben Kinder Ballast waren." Mit Pferdekarren kamen die Kinder bis nach Posen. Nachdem der Weg an die Ostsee durch die Rote Armee versperrt war, beschlossen die Kinder, sich allein nach Moers durchzuschlagen. Eine wochenlange Odyssee folgte. Überlebt haben die Kinder durch Betteln und Stehlen. Geschlafen haben sie auf der nackten Erde: "Wie ein Hunderudel aneinander geklemmt."

Aus einem Brief vom Vater wussten sie, dass Opa Vierbaum wie viele Scherpenberger nach Lohburg an die Elbe evakuiert worden war. Da trafen sie irgendwann ein. Und eines Tages ihre Mutter. Eine fremde Frau mit einem Bündel im Arm. Das war Inge. Der Opa starb. Und Werner, 13 Jahre. Durch eine Splittergranate. Ein Deserteur bastelte aus einem Gartenzaun einen Sarg . Da erfuhren sie auch, was mit den Jüngsten passiert ist. Und was ihnen auch passiert wäre, hätten sie die Fahrkarten einen Tag früher erhalten.

Ihre Mutter hat seit jenen Tagen im Januar 1945 nicht mehr geredet, nie mehr gelacht. Sie starb 1965. Auch Elisabeth Anlahr kann nicht über die Umstände sprechen, wie ihre Geschwister auf der "Wilhelm Gustloff" starben. Das Grauen hat keine Sprache. Nur ein Meer aus Tränen. Bis heute.


DIE "WILHELM GUSTLOFF"

Fast 9000 starben

Als sie 1937 vom Stapel lief, war die "Wilhelm Gustloff" das größte Kreuzfahrtschiff ihrer Zeit. Zwei Jahre später wurde sie zum schwimmenden Lazarett umgebaut und diente danach auch als Truppentransporter. Am Abend des 30. Januar 1945 befanden sich 10 000 Flüchtende, hauptsächlich Frauen und Kinder, an Bord auf der Ostsee. Sie sollten in aller Eile gen Westen gebracht werden. Drei Torpedos eines russischen U-Bootes trafen das Schiff.Überlebt haben nur 1200 Menschen. (spe)

ALMUTH SPERVESLAGE
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